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Haus der Wissenschaft

«Ein Triumph der Architektur»

Interview mit dem Kunst- und Architekturhistoriker Prof. Dr. Stanislaus von Moos

Die UZH feiert im April das 100-jährige Bestehen ihres Hauptgebäudes. Das markante Bauwerk fand in der Forschung lange Zeit wenig Beachtung. Zu Unrecht, wie Stanislaus von Moos im Gespräch mit David Werner erklärt.

«Der Lichthof ... ist einer der eindrucksvollsten Innenräume, die im 20. Jahrhundert in der Schweiz geschaffen wurden»: Stanislaus von Moos

Herr von Moos, haben Sie einen Lieblingsort im Hauptgebäude?

Stanislaus von Moos: Drunten in der Westvor halle, in der ursprünglich die archäologische Sammlung aufgestellt war und die heute als Foyer für den neuen, unterirdischen Hörsaal dient. Der Blick von dieser abgesenkten Halle durch die grosse Bogenöffnung am surreal grossen Kouros von Samos vorbei hinauf in den grossen Lichthof: Das ist ein Triumph der Architektur!

Sie haben 1983 ihre Antrittsvorlesung über den Architekten des Gebäudes, Karl Moser (1860–1936), gehalten. Was hat Sie damals an Moser interessiert?

von Moos: Ich war überzeugt, dass Moser neben Le Corbusier der bedeutendste Schweizer Architekt im 20. Jahrhundert war und die Universität sein Hauptwerk. Ein Buch über Moser gab es damals nicht. Eben an die Universität berufen, schien mir nichts näherzuliegen als die Idee, aus Moser meinen Forschungsschwerpunkt zu machen. Aus dem Forschungsschwerpunkt wurde nichts – anderes kam dazwischen, und das Terrain erwies sich als bereits vergeben – aber mein persönlicher Blick hat sich seither nicht grundsätzlich verändert, jedoch, so hoffe ich, etwas geschärft. Mit der von Moser eingesetzten «Kunst am Bau» konnte ich damals nicht viel anfangen. Heute weiss ich etwas mehr darüber und bin entsprechend offener und neugieriger geworden.

Die kunstgeschichtliche Rezeption stand Karl Mosers Werk und insbesondere auch der Universität lange Zeit eher reserviert gegenüber. Woran lag das?

von Moos: Moser gehört im Bewusstsein der Schweizer Architektur zur so genannten Vormoderne; man sieht in ihm den Vertreter einer Übergangszeit und hält ihn für entsprechend problematisch. Ich selber halte die Unterscheidung von «eigentlichen» Epochen gegenüber «Übergangszeiten» in der Kunstgeschichte für Unsinn. Jede Epoche ist Übergangszeit; und was die «Moderne» anbelangt, so kann man bekanntlich endlos darüber streiten, wo genau sie anfängt und wo sie aufhört. Ich gehöre zu denen, die die «Vormoderne» genauso unabdingbar dazurechnen wie die «Postmoderne»: Entsprechend lautete der Titel meiner Antrittsvorlesung auch «Karl Moser und die moderne Architektur», obwohl ich fast nur von der Universität sprach. Unter den Architekten im Saal sorgte das für verhaltenen Ärger … Der «moderne» Karl Moser: das kam, der vorherrschenden Meinung zufolge, erst danach!

Sie denken an Mosers Projekte für die Erweiterung der Universität aus den Dreissigerjahren, oder an den berühmten Sichtbetonbau der Antoniuskirche in Basel?

von Moos: Genau. Und daran, dass «Papa Moser» sich selbst seit den Zwanzigerjahren als Mentor der architektonischen Avantgarde verstand, was er ja als Lehrer an der ETH auch tatsächlich war.

Allerdings ist das, was in jenen Jahren an Bauten und Projekten von ihm entstand, mit der einen grossen Ausnahme der Antoniuskirche in Basel, wohl doch eher leichtgewichtig im Vergleich zu den grossen Brocken wie etwa der Universität.

Und was seine Vorstellungen für den Totalneubau des Zürcher Niederdorfs als funktionalistische Modellstadt anbelangt, so kann man heute nur froh sein, dass nichts davon gebaut wurde!

Welchen Tendenzen folgte die Erforschung von Mosers Werk in den letzten Jahrzehnten?

von Moos: Die Wiederentdeckung Mosers erfolgte mit Verspätung: Während das Ausland die grossen Figuren der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts wie Otto Wagner, Josef Hoffmann oder die Brüder Perret seit den Achtzigerjahren in Ausstellungen und Monografien würdigte, blieb es in der Schweiz um Moser seltsam ruhig.

Warum?

von Moos: An der ETH, wo Mosers Nachlass ruht, wurde die Architektur des 20. Jahrhunderts bis vor wenigen Jahren fast ausschliesslich durch die Brille des «Neuen Bauens» gesehen. Entsprechend schwer tat man sich mit jenem weit überwiegenden Teil von Mosers OEuvre, das mit dem Neuen Bauen nichts zu tun hat, also etwa mit der Universität. Die wichtigsten Forschungsimpulse kamen denn auch von anderer Seite – zum Beispiel aus dem Kreis um die Herausgeber des Inventars der Neueren Schweizer Architektur (INSA). Allerdings hat die ETH inzwischen mächtig aufgeholt, indem sie 2010 einen umfassenden, zweibändigen Katalog herausbrachte und im Kunsthaus eine wunderbare Ausstellung zeigte.

Was interessiert die Forschung heute an Moser?

von Moos: Unser Buch, das im kommenden April zum 100-Jahr-Jubiläum von Mosers Universitätsgebäude erscheinen wird, wird dazu einige Aufschlüsse geben. Die Frage, ob Moser noch nicht, nicht mehr, oder allenfalls schon wieder ein bisschen modern ist, spielt darin keine Rolle mehr. Diese Frage ist irgendwie abgehakt. Im Vordergrund stehen andere Dinge, etwa das, was Sonja Hildebrand im Buch mit dem Begriff «Wissenskultur» umschreibt: Inwiefern artikuliert Mosers Universitätsgebäude damals aktuelle Welterklärungsmodelle wie Evolutionstheorie oder Monismus? Und wie gleicht er diese mit dem bildungsbürgerlichen Antikenkult ab, der schon vom Bauprogramm her vorgegeben war? Im Lichthof, dem Herz des Kollegiengebäudes, befand sich ja die Archäologische Sammlung. Dazu kommt noch das bis heute bestehende Zoologische Museum.

In welchem Grad ist Mosers Universitätsgebäude «Museumsarchitektur»?

von Moos: Mosers Bauten sind immer auch ein bisschen Ausstellungsarchitektur. Das Universitätsgebäude ganz besonders. Vieles von Mosers Arbeit am wenige Jahre zuvor realisierten Zürcher Kunsthaus ist darin eingeflossen.

Göttergarten mit Glasdach: Der Lichthof beherbergte 1914 die archäologische Sammlung.

Apropos Musealität: Finden Sie nicht, dass Moser beim Entwurf des Lichthofs allzu sehr mit dem didaktischen Zeigefinger gearbeitet hat? Vom sogenannten Göttergarten im Erdgeschoss bis hinauf zum Glasdach verweist jedes Stockwerk in Mosers Universitätsgebäude auf eine abendländische Stilepoche – von der griechischen Antike bis zum Industriezeitalter. Das wirkt wie ein gebautes Lehrbuch …

von Moos: Wenn Sie Mosers Umgang mit dem architekturhistorischen Stilvokabular vor dem Hintergrund des damals Üblichen betrachten, kommen Sie zu einem anderen Schluss. Nehmen Sie zum Beispiel den rund zehn Jahre älteren Bau des Landesmuseums von Gustav Gull, dem Gegenspieler von Moser in Zürich. Das Landesmuseum war ja programmatisch als eine Art gebautes Résumé zur schweizerischen Kunstgeschichte gedacht. Damit verglichen sind die Stilzitate im Lichthof der Universität doch weitgehend der ästhetischen Gesamtwirkung und der architektonischen Funktion unterworfen. Die traditionellen Elemente verschmelzen zu einem organisch gefügten Ganzen. Moser selbst hat übrigens die Bedeutung von Traditionsverweisen in seiner Architektur immer heruntergespielt.

Trotzdem – das Universitätsgebäude strotzt vor Anspielungen auf die Historie.

von Moos: Klar, ein wenig Geschichtslektion ist halt schon von der Aufgabe her vorgegeben; so mindestens verstand es Moser. Für seine Generation war das Mischen von Stilformen aus verschiedenen Epochen gängige Praxis. Meisterschaft im Sinne der Moderne war eine Frage des Vermögens, diese Pluralität der Sprachformen einem zusammenfassenden konstruktiven, funktionalen oder räumlichen Konzept zu unterwerfen. Gerade darin besass Moser eine fast schlafwandlerische Sicherheit. Das macht aus ihm zwar keinen Pionier der Avantgarde, aber einen bedeutenden Vertreter dessen, was der Architekturhistoriker Henry-Russell Hitchcock in einem längst vergessenen Buch 1929 als Inbegriff der «Neuen Tradition» innerhalb der Moderne bezeichnet hat.

Man hat Moser angesichts seiner Virtuosität auch als «Architektur-Chamäleon» bezeichnet. Schwingt in dieser Bezeichnung auch ein Opportunismus-Vorwurf mit?

von Moos: Sie spielen auf den Kunsthistoriker Peter Meyer an, der einmal gesagt hat, dass Moser, wenn er noch länger gelebt hätte, vermutlich eines Tages sogar Ronchamp «über-ronchämpelet» hätte. Natürlich war das nicht als Kompliment gedacht. Es war Basler Spott, reif für die Schnitzelbank! Verschiedene Stile gleichzeitig anzuwenden, und überdies in ein und demselben Bau – die Universität ist ein anschauliches Beispiel dafür – galt und gilt aus der Sicht des Neuen Bauens als skandalös. Klar, dass es auch ein Mittel war, eine beträchtliche Spannweite von Benutzererwartungen und Geschmäckern zu bedienen; es ist ja kein Zufall, dass Eklektizismus und Wirtschaftsliberalismus so gut zusammenpassen. Und dass Moser innerhalb dieser auch wirtschaftlichen Konstellation ein fast unabsehbar umfangreiches Gesamtwerk von realisierten Bauten hinterlassen hat!

Was hielt der von Moser geförderte Le Corbusier eigentlich vom Universitätsgebäude?

von Moos: Er war kein Fan davon, mindestens in seinen jungen Jahren. Er bezeichnete es in einem Brief an den Betonpionier Auguste Perret 1915 als «horreur». Es erinnerte ihn an Dinge, die er in Deutschland gesehen und zu verachten gelernt hatte: das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig oder wilhelminische Grossplanungen für Berlin, die in der Tat auch Moser inspiriert haben dürften. Später, 1938, als das Zürcher Kunsthaus eine Ausstellung seiner Malerei durchführte, erwies er sich dann als äusserst empfänglich gerade für die museale Aura des Gebäudes.

Ist aus Ihrer Sicht Mosers Universitätsgebäude gute Architektur?

von Moos: Das «Gute» in der Architektur ist ja so eine Sache. Es unterliegt bekanntlich dem Wandel des Zeitgeschmacks.

Jetzt weichen Sie aus.

von Moos: Der Turm ist und bleibt in meinen Augen eine wunderbare städtebauliche Zeichensetzung. Und der Lichthof und die Art, wie er sich von den abgedunkelten Wandelhallen her Schritt für Schritt erschliesst, ist einer der eindrucksvollsten Innenräume, die im 20. Jahrhundert in der Schweiz geschaffen wurden. Ich persönlich halte es für einen Glücksfall, dass der Bau, so, wie er konzipiert wurde, das abgelaufene Jahrhundert relativ unbeschadet überlebt hat. Natürlich bringt jeder Einbau einen Verlust, so auch Ernst Gisels Hörsaaleinbau im Lichthof des alten Biologiegebäudes; doch wird das Verlorene durch die Kraft des Eingriffs in diesem Fall aufgewogen. Gerade auch insofern, als Gisels konstruktivistische Lösung eine Gegenposition zu Moser markiert, während etwa der Ausbau des Sockels auf der Westseite des Baus eher ironisierend oder verfremdend vorgeht.

Moser hat der Kunst im Universitätsgebäude einen auffallend hohen Stellenwert eingeräumt. Was war das Besondere an Mosers Verhältnis zur Kunst und zu den Künstlern?

von Moos: Kaum ein Architekt seiner Generation hat zeitgenössischen Künstlern, zumal auch jungen Künstlern, so viel Raum zur Entfaltung ihrer Autonomie eingeräumt. Gerade als Entwerfer von Kirchen und Museen verstand er sich immer auch ein wenig als Kurator. Nicht zuletzt sollten seine Bauten der Kunst eine Bühne bieten.

Unter den vielen Künstlern, die Moser zur Ausgestaltung des Universitätsgebäudes beizog, war auch der junge Maler Paul Bodmer. Seine Wandmalereien mit nackten Jünglingen lösten einen Skandal aus. Kaum waren sie fertig, mussten sie wieder übermalt werden. Gehörte Provokation zum Kalkül Mosers bei der Wahl seiner Künstler?

von Moos: Das glaube ich nicht. Ich meine, er sah in der Vielstimmigkeit der unter einem Dach versammelten Kunst eher ein Gleichnis von Demokratie. Indem er bei der Gestaltung seiner Bauwerke Positionen verschiedenartiger Künstler zusammenführte, praktizierte er im Grunde «partizipatorisches Bauen» avant la lettre.

Ein Bauwerk, an dem verschiedenste Gestalter mitwirken: War das auch Mosers Vorstellung vom Wesen einer Universität?

von Moos: Mir ist keine Aussage von Moser bekannt, die das beweisen würde. Aber das Gebäude selbst scheint diese Hypothese zu bestätigen.

Ausgehobenes Baufeld: Der Spatenstich für den Bau des Hauptgebäudes der Universität Zürich erfolgte am 3. Januar 1911.

Hat das Universitätsgebäude für Sie auch Mängel?

von Moos: Vielleicht hat sich Moser bei der Vielfalt der ins Werk gesetzten Motive etwas übernommen. Das Ganze sollte einerseits bildungsbürgerliche Standfestigkeit verkörpern, aber andererseits nicht allzu viel kosten. Das Syndrom ist typisch für das Bauen in der Demokratie. Die Opulenz des Ganzen kann einem schon etwas aufliegen, wie schweres Essen. Offenbar musste da der Welt und nicht zuletzt dem Zürcher Steuerzahler etwas bewiesen werden. Sieht man sich zeitgenössische Universitätsbauten an, etwa die Jenaer Universität von Theodor Fischer, so fällt doch auf, wie sehr viel bescheidener und wohl auch präziser dort die Masse gesetzt sind.

Sie haben eben den Turm erwähnt. Er war mit seinen 65 Metern das erste Hochhaus Zürichs. Heute, hundert Jahre später, erlebt Zürich einen regelrechten Hochhaus-Boom. Sehen Sie hier Zusammenhänge?

von Moos: Ja, schon. In der Zeit vor und kurz nach dem Ersten Weltkrieg war Städtebau weitgehend eine Frage des selektiven, akzentuierenden Eingriffs in die bestehende Stadt, im Gegensatz zur gesamtheitlichen Planung der Bausubstanz von A bis Z, wie sie das Neue Bauen später durchzusetzen versuchte. Die Möglichkeiten der Architektur, in das Stadtbild einzugreifen, beschränkten sich in der Schweiz weitgehend auf markante Einzelbauten wie Kirchen, Verwaltungsbauten – oder eben Schulen oder Hochschulen. Heute, im frühen 21. Jahrhundert, befinden wir uns gewissermassen wieder am Punkt der Entwicklung, bei dem Moser zwischen 1900 und 1920 angesetzt hatte. Sozialen Wohnungsbau und öffentliche Bautätigkeit im Dienst des Wohlfahrtstaates gibt es kaum, sodass die Architekten in der städtischen Physiognomie wiederum fast ausschliesslich mit Einzelbauten – denken Sie an den Prime Tower – markante Zeichen setzen können. Nur dass sich die Architekten heute im Karpfenteich der Interessen – Investoren, Banken, Versicherungen – nach Bauträgern umsehen müssen, während Moser noch die Kirche und den Staat hinter sich hatte.

In den ursprünglichen Plänen Mosers ist der Universitätsturm viel gedrungener und niedriger. Wie kam es, dass er schliesslich so hoch wurde?

von Moos: Der Turm war jener Teil des Universitätsgebäudes, um dessen endgültige Form Moser vielleicht am längsten gerungen hat. Im Staatsarchiv kann man in den amtlichen Protokollen nachlesen, wie sich Stadt und Kanton darauf einigten, dem Universitätsturm mittels einer Ausnahmeregelung die markante Höhe zuzugestehen, die er heute hat. Man nahm diesen Anspruch der Universität auf Dominanz offensichtlich nicht nur in Kauf, man erklärte ihn sogar zum öffentlichen Anliegen.

Überzeugt der Turm noch heute?

von Moos: Man kann sich Zürich schwerlich ohne diesen Turm vorstellen. Ein wuchtiger Zacken, der das Gebiss der Altstadt zusammenfasst und mit dem Alpenpanorama korrespondiert: Städtebau und Landschaftsgestaltung in einem.

Herr von Moos, vielen Dank für das Gespräch.

Weiterführende Informationen

Zur Baugeschichte

1908 gewann das Architekturbüro Curjel & Moser den im Jahr zuvor ausgeschriebenen Wettbewerb für das Zürcher Universitätsgebäude. 1910 wurden auf dem für den Neubau vorgesehenen Terrain das sogenannte Künstlergut mit der Gemäldegalerie sowie die Blinden- und Taubstummenanstalt abgebrochen. Am 2. Januar 1911 war Baubeginn. 1912 war das Kollegiengebäude, 1913 der Turm aufgerichtet. Die feierliche Eröffnung fand vom 17. bis 20. April 1914 statt. 1917/1918 arbeitete Moser im Auftrag des Regierungsrats Pläne für ein Erweiterungsprojekt mit einem zweiten Turm aus. Es kam genauso wenig zur Ausführung wie Mosers letzte umfassende Erweiterungsplanung aus Sichtbeton (1930/1931).

Interview

Das Interview mit Stanislaus von Moos stammt aus dem magazin 1/2014.